360 Grad Videos vernünftig aufnehmen

17. April 2017

Nach 3D der nächste Hype? 360 Grad Videos überzeugen in einigen Bereichen sofort, in anderen machen sie keinen Sinn. Besonders in der Unternehmenskommunikation gibt es viele Anwendungsbereiche, für die 360 Grad besonders geeignet ist und hilft einen Themenkreis umfassend darzustellen. Immer wenn der Raum und die Möglichkeit zur Erkundung eine Rolle spielt, dann ist 360 Grad ein adäquates Format für diese Aufgaben.

360 Grad Filme werden von mindestens zwei auf einer Achse nach außen gerichteten Kameras mit Bildwinkeln grösser als 180 Grad aufgenommen. Die Anzahl der Kameras kann sich bis 42 Stück im Rig erhöhen (360 Design). Die Einzelbilder werden in ihren Überlappungen vom Computer zu einer virtuellen 360 Grad Kugel zusammengerechnet (Stitching) und lassen sich in drei verschiedenen Weisen anschauen:

1. als auf die Ebene projizierte 360 Grad Kugeldarstellung

2. als normales HD Video mit Verschiebemöglichkeit nach links/rechts und oben/unten

3. als doppel Bilddarstellung für Smartphone mit Cardbox, hier übernehmen die Bewegung des Kopfes und die Richtungssensoren des Smartphones die entsprechende Nachsteuerung des Bildausschnitts.

Welche Arbeit bleibt für den Kameramann bei 360 Grad? Zunächst muss die Kamera platziert werden. Eine 360 Grad Kamera hat keinen Sucher; den braucht sie auch nicht, weil ein geübter Kameramann weiß, was sich wie abbildet und wo am besten die Kamera zu platzieren ist. Für die Aufnahme muss sich der Kameramann genauso verstecken, wie alle anderen Mitglieder des Teams. Das Licht muss, will man es nicht im Bild haben, in die Dekoration und Szene integriert werden.  Durch Mehrfachaufnahme kann man auch bestimmte Bildbereiche in der Nachbearbeitung austauschen und so sichtbare Technik eliminieren. Schwierig werden Kamerafahrten, die durchaus möglich sind und sinnvoll sein können. Bei Fahrten fallen auf alle Fälle Retuschier-Arbeiten am Film an, um Schienen und Kamerawägen aus den Bildern zu entfernen. Besonders problemtisch sind für 360 Grad Kameras alle Aktionen nah an der Kamera. Zum einen gibt es durch die Weitwinkeloptik extreme Verzerrungen bis ins Groteske, zum anderen entstehen durch die Anordnung und das Volumen der Kameras in einem gemeinsamen Rig an den Einzelbildkanten tote Winkel und Überschneidungsbereiche, die beim Stitching schwer zu handhaben sind, weil ihre Bildinformation vollständig anders sein kann. Arri hat mit dem Frauenhofer Institut auf Basis deren Omnicam ein Spiegelrig für 6 Alexa Minikameras gebaut, bei dem die 6 Kameraachsen ein gemeinsames Zentrum haben und die Überschneidungsproblematik nicht ins Gewicht fällt.

Die Omnicam des Frauenhoferinstituts, ähnlich ist die Version mit 6 Mini-Alexakameras aufgebaut.

Problem bei 360 Grad Video ist die Erzählstruktur. Jeder Schnitt bedeutet einen Raumsprung. Wenn der Zuschauer gerade woanders hin schaut, verpasst er wichtige Informationen zum Handlungsstrang. Man muss zurückspulen oder mehrfach das Video schauen, damit einem nichts entgeht. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers lässt sich eventuell mit gezieltem Einsatz von Ton in die richtige Richtung lenken. Auch ist eine Beschränkung des Blickwinkels auf 180-200 Grad denkbar.

Inzwischen gibt es Filmbeispiele mit szenischer Handlung für 360 Grad, wie zum Beispiel den Film Film „Help“ von `The Mill´  Ein Making of des Films „Help“ zeigt, welcher Aufwand hinter dieser kurzen Episode steckt, die durchgehend in einer Einstellung spielt. Auch wenn man „Help“ mit einer VR Brille anschaut, wird man in einem Durchlauf längst nicht alle Aktion wahrnehmen können, die in den Bildern verborgen ist. Help muss man mindestens zweimal sehen. Interessant ist bei der Verfolgungsjagd durch eine U-Bahn die Positionierung der Kamera zwischen Jäger und Gejagten, man kann die beiden Perspektiven nur mit einem 180 Grad Schwenk (bei Brilleneinsatz muss dieser mit dem Kopf gemacht werden) erfassen. Und weil das Umschauen Zeit kostet, ist die Rezeption dieser Verfolgungsjagd im vorgegebenen Zeitrahmen nicht vollständig und so möglich wie wenn man die beiden Perspektiven im Schnitt-/Gegenschnitt verarbeitete.

 

 Szene aus Help

Wie man 360 Grad Video sinnvoll für Dokumentationen nutzen kann, zeigt der WDR mit einigen Projekten. „Pripjat – eine Geisterstadt“ ist ein Video zur Tschernobyl Katastrophe, in dem ein älteres Ehepaar aus dem Off von dem Tag der Reaktorkatastrophe erzählt und die verlassenen Orte von damals aufsucht, ihre Wohnung, den Kindergarten, das Krankenhaus.

Während der Film läuft, hat als Zuschauer genügend Zeit, sich an den verschiedenen Orten umzuschauen. Hier wurden auch Drohnenaufnahmen sinnvoll eingesetzt. Gleiches gilt für Inside Auschwitz, wo drei Überlebende Frauen von ihren Lagererfahrungen erzählen. Auch gesetzte Interviews können im 360 Grad Video funktionieren, aber in diesem Fall hat man das Team durch eine zweite Aufnahme aus den 360 Grad entfernt, was durchaus funktioniert, weil man dem Interviewpartner lauschen kann und dann den Blick durch Scrollen oder Kopfdrehen (Brille) durch den Raum schweifen lassen kann.

Virtuell Reality soll man mit 360 Grad nicht verwechseln. VR bietet dem Betrachter auch den 360 Grad Rundblick, gleichzeitig aber kann sich der Betrachter im virtuellen Raum bewegen, weshalb der Raum als dreidimensionales Rechenmodell vorhanden sein muss. Die Bewegung des Betrachters wird durch Raumsensoren registriert und in eine entsprechende Perspektive der virtuellen Kamera umgesetzt. VR ermöglicht dem Betrachter in einer Szene umherzugehen und individuell eine Perspektive zum Raum einzunehmen. Schauspieler, die im virtuellen Raum agieren müssen als Hologramm aufgezeichnet werden. Dafür gibt es das Volumetric Studio. Mikrosoft hat ein Studio mit 105 synchronisierten RGB und Infrarot Kameras gebaut. Alle Kameras sind um ein Zentrum gruppiert, in dem die Darsteller während ihrer Aktionen aus allen Blickrichtungen erfasst werden. So entstehen Hologramme realer Personen die sich mit virtuellen Hintergründen mischen lassen. Eine Mischform ist die Augmented Reality, bei der virtuelle Teilbereiche über eine Brille in die vorhandene Realität ein gespiegelt werden. Diese Technik wird sich vor allem in der Forschung, Produktentwicklung und Lehre durchsetzen.

 

Mit der Hololens von Microsoft kann man den realen 3D Raum mit virtueller Darstellung mischen

360 Grad im Journalismus

360 Grad Video ist ein immersives Medium. Immersion bezeichnet ein Eintauchen während des Rezeptionsprozesses. Immer mehr Journalisten experimentieren mit 360 Grad Video, auch die Süddeutsche Zeitung; Reporter begleiten die Bergwacht in den Alpen und Hilfsorganisationen im Mittelmeer bei Rettungsaktionen.

SZ Video zur Bergwacht

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, ob es Aufgabe des Journalisten sein soll, Zuschauer in das Geschehen hineinzuziehen. Besser wäre dieser Bereich bei Schaustellern aus der Jahrmarktsbranche aufgehoben. Journalisten sollen auswählen, Relevanz bewerten, zusammenfassen und Orientierung schaffen. Da sind 360 Grad Aufnahmen von Bootsflüchtlingen wenig hilfreich und eher dazu geeignet, bei Zuschauern Empathie zu schaffen und die Spendenbereitschaft zu forcieren. In diesem Bereich sind 360 Grad Video und VR Filme besonders stark. Bei einer VR Anwendung kann man die Gefängniszelle eines Häftlings besuchen und sich durch umhergehen in selbiger ein Gefühl der Enge verschaffen.

Studie zu virtuell reality Journalismus